„Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich Fünfte werde“
Sandrina, seit Deinem Wettkampf sind jetzt ein paar Tage vergangen. Hast Du schon begriffen, was Du geleistet hast?
Sprengel: Nein, ich hatte noch nicht so richtig viel Zeit für mich allein, um mal darüber nachzudenken. Ich glaube, das kommt erst noch.
Zehnkampf-Weltmeister Leo Neugebauer vom VfB Stuttgart wollte erst einmal ein Bier trinken. Auf was hattest Du Lust?
Sprengel: Der Flo hat im Restroom mit einem Bier auf mich gewartet.
Bauder: Dass wir nach dem Wettkampf gemeinsam ein Bier trinken, darüber hatten wir im Vorfeld schon mal geredet. Egal wie es ausgeht. Sandrina musste erst durch die Mixed-Zone und ich hatte auf dem Weg in den Restroom Zeit und habe das eine oder andere Bier für die Ärzte, Physios und Sandrina mitgenommen.
Es war das erste Mal, dass Du nach dem Wettkampf durch die Reihen der Fernsehanstalten gehen durftest. Wie war das?
Sprengel: Obwohl es bei allen internationalen Meisterschaften gibt, war es wegen der coolen Atmosphäre mit dem Stadion im Hintergrund etwas Besonderes. Es ist aber auch ganz schön anstrengend nach dem Wettkampf. Man ist kaputt und muss dann vor den Fernsehkameras stehen und viele Fragen beantworten.
Bauder: Es war echt cool, wie sie das in der Situation gemeistert hat. Man hat gar nicht gesehen, wie platt sie war. Die Interviews hat sie super mit ihrer natürlichen Art gemeistert. Das war sehr sehr cool anzuschauen von außen.
Abgesehen von Deinen Leistungen, vor allem den drei Bestleistungen, gab es etwas, mit dem Du nicht gerechnet hattest?
Sprengel: Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich Fünfte werde.
Wie hast Du Dich gefühlt, als Du zur ersten Disziplin, dem 100-Meter-Hürdenlauf, in das riesige Stadion eingelaufen bist?
Sprengel: Dass es eine Eveningsession war, fand ich richtig cool. Es war schon dunkel, das Flutlicht hat alles hell erleuchtet. Und es waren richtig viele Leute drin.
Bauder: Es war ausverkauft. Am Anfang war das Stadion noch nicht komplett voll, ich schätze mal 50 000 Zuschauer. Am Ende war’s voll.
Sprengel: Die Japaner sind richtig süß, die feuern jeden an, auch wenn man kein Japaner ist.
Du hast gesagt: „Ich wusste nicht, dass ich so schnell rennen kann.“ Das hat sich wohl auf den abschließenden 800-Meter-Lauf bezogen?
Sprengel: Ich weiß echt nicht, wie das ging. Ich habe mich viel damit beschäftigt, wo ich mich einreihe. Deswegen ging der Lauf relativ schnell vorbei. Ich habe Anna Hall (USA, Weltmeisterin und beste 800-Meter-Läuferin) beobachtet, die war nach der ersten Runde nicht so weit vor mir. Es gab auf alle Fälle keine großen Lücken. Direkt vor mir war Adrianna Sulek (Polen, Platz 15). Mit der habe ich mich voll lang beschäftigt und überlegt, wann ich an ihr vorbeigehe. Das habe ich auf der Gegengeraden in der zweiten Runde gemacht. Und selbst hinten raus ging’s noch ganz gut. Gefreut habe ich mich natürlich über die gute Zeit.
Bauder: Es war im Training schon abzusehen, dass sie das rennen kann. Ich bin ich mir auch sicher, dass noch ein bisschen mehr geht.
Man muss sich ja auch noch Ziele offen lassen, um sich steigern zu können.
Sprengel: Das nächste Mal dann 2:13 Minuten. Und mit 2:09 oder 2:08 ist man dann richtig gut dabei. Das wäre schon krass.
Ähnlich krass war auch der Speerwurf. Waren die 51,66 Meter auch absehbar? Immerhin hattest Du gesagt: „Auch meine Leistung im Speerwurf hätte ich mir nicht erträumen können, ich bin überglücklich!“
Sprengel: Ich hatte schon gewusst, dass ich weit werfen kann. Und klar hatte ich es gehofft. Aber dass ich es dann tatsächlich auch mache, gleich im ersten Wurf, das war schon cool. Das lag sicherlich an unserem Warmup.
Bauder: Bei den Würfen mit kurzem Anlauf ist der Speer schon sehr, sehr weit geflogen. Das hat Sandrina vermutlich gar nicht so richtig registriert, wie weit die waren.
Sprengel: Doch.
Bauder: Von daher wusste ich schon, dass der Fünfer vorne stehen kann, aber dass es auf 51,66 Meter geht, das war schon einmal das I-Tüpfelchen.
Sprengel: Verrückt. Nicht?
Bauder: Schon.
Was war jetzt das besondere Warmup?
Weil zwischen Morning- und Afternoonsession nichts los war, durften sich alle Mehrkämpferinnen gemeinsam im Stadion warmmachen. Wir haben zuerst einmal mit einem Handball die Schulter warmgemacht. Das war ein bisschen was Anderes.
Wie coacht es sich in so einem riesigen Stadion? Im Fernsehen sieht man, wie die Athletinnen Richtung Bande laufen, die Trainer sich über die Balustrade beugen.
Sprengel: Hauptsächlich mit schreien.
Wie sieht man als Trainer auf die riesigen Distanzen die entscheidenden Kleinigkeiten?
Bauder: Grundsätzlich geht man nach gewissen Disziplinen aus dem Stadion in den Restroom. Da sieht man sich und kann kurz ansprechen, was davor war oder was noch kommt. Da kann man auch noch absprechen, was man in den folgenden Disziplinen vorhat. Im Stadion selber gibt es schon eine gewisse Distanz. Im Weitsprung waren wir näher dran, im Speerwerfen waren wir weiter weg, weil dazwischen noch ein Graben war. Da musste man schon sehr laut reden, fast schon schreien. Und weil ich nicht weiß, wie es unten ankommt, habe ich teilweise auch die Hände zu einem Trichter geformt. Viel passiert über das ganze Jahr, sodass manchmal nur gewisse Bewegungsabläufe vorgemacht werden müssen, teilweise ist allein schon der Blickkontakt ausreichend. Dann weiß die Athletin Bescheid. Unser Vorteil ist, dass wir schon sehr lange sehr viel zusammen gemacht haben und dass wir auch die letzten internationalen Meisterschaften gemeinsam bestreiten konnten.
Es ist also schon ein Vorteil, wenn der Heimtrainer dabei ist?
Sprengel: Auf jeden Fall.
Bauder: Für mich persönlich ist ein Bild beim Speerwurf sehr sehr cool, als Sandrina mit gespreizten Zeige- und Mittelfinger auf die Augen zeigt…
Sprengel: Das war vor dem ersten Wurf. Damit wollte ich Flo etwas signalisieren.
Bauder: Sandrina stand innen, war kurz vor dem ersten Wurf und zeigt mir mit den Fingern: Pass auf, ich mach das jetzt. Das sind so Geschichten, die ich persönlich sehr, sehr cool finde.
Sprengel: Ich wollte ihm sagen: Jetzt kommen die 50.
Bauder: Ich habe so gelacht. Dann war klar, dass das auch passiert.
Dein „Entdecker“ Martin Grundmann hat deine mentale Stärke hervorgehoben. Ist das angeboren oder hast du daran gearbeitet?
Sprengel: Ich habe schon relativ früh daran gearbeitet.
Allein oder mit Hilfe?
Sprengel: Mit Mentalcoaches. Ich hatte aber den Eindruck, dass das nichts gebracht hat. Es war immer disziplinspezifisch und nicht auf die allgemeine, mentale Stärke bezogen. Ich würde aber nicht pauschal sagen, dass ich mental stark bin.
Bauder: Es ist schon ein Prozess. Natürlich ist eine Nervosität, eine Unsicherheit vorhanden, das gehört dazu. Ohne das fehlt aber auch die Anspannung und die Energie, die man reinbringen will. Was Sandrina angesprochen hat: Sie hatte mal einen Mentalcoach, aber auf den konnte sie sich nicht so richtig einlassen, wie sie es beschrieben hat.
Es muss die Chemie stimmen.
Bauder: Das Alter muss passen, die Situation muss passen, damit man etwas erarbeiten kann. Deshalb hat sie das dann auch relativ zügig wieder gelassen. Ich denke, über das Training ist die Selbstsicherheit gewachsen und sie konnte Dinge umsetzen, die wir im Training besprochen haben. Auch wenn mal was schiefgeht, es gibt immer einen nächsten Versuch. Selbst dann, wenn eine Disziplin nicht so läuft, wie man es im Kopf hatte, gilt: Abhaken, in der nächsten Disziplin kann man es wieder besser machen. Ob es ein paar Zentimeter mehr oder weniger sind, macht letztendlich nicht so viel aus, als wenn man null Punkte hat. Aus der Sicherheit, die sie über die letzten Jahre bekommen hat, kommt auch die mentale Stärke. Im Weitsprung hatten wir uns zum Beispiel beide ein bisschen mehr als die 6,25 Meter vorgestellt, aber es war an diesem Tag nicht mehr drin. Trotzdem hat sie bis zum dritten Versuch an sich geglaubt und wollte noch weiter springen, obwohl die ersten Versuche noch nicht so gut waren. Mentale Stärke ist, an sich zu glauben und es besser machen zu können.
Du bist nach den Titelkämpfen noch ein wenig in Tokio geblieben? Wer war dabei? Was habt ihr euch noch alles angeschaut?
Sprengel: Ja. Ich habe vier Tage noch ein wenig Sightseeing gemacht. Denn wann bin ich wieder in Tokio? Vanessa (Grimm; Siebenkampf-Kollegin) und ein paar andere aus dem Team sind auch noch dageblieben.
Ist Tokio ein interessante Stadt?
Sprengel: Es ist die coolste Stadt, in der ich jemals war. Ich habe unheimlich viel gesehen, die Leute sind unheimlich nett, das Essen ist so lecker. Die Stadt schläft einfach nicht. Ich habe mich auch noch nie so sicher in einer Großstadt gefühlt.
Wie habt Ihr Euch orientiert? Es ist ja nicht so einfach mit den anderen Schriftzeichen.
Sprengel: Ich gestehe, dass ich in den vier Tagen mehr Ecken gesehen habe als in den vielen Jahren, in denen ich in Stuttgart lebe. Anfangs bin ich Uber gefahren, weil ich Angst hatte mich zu verlieren. Aber das U-Bahn-System ist so einfach. Und es gibt nur drei oder vier Viertel, in denen man sich aufhält.
Bauder: Das U-Bahn-Netz ist echt super und über eine App werden die Linien und Fahrtrichtungen angezeigt, das ist richtig easy. Und sie fahren regelmäßig und pünktlich.
Sprengel: Ich bin auch dann noch gut zurecht gekommen, als ich einmal keine Akkuleistung mehr hatte. Und als am letzten Tag mein Datenvolumen aufgebraucht war.
Was sind die nächsten Schritte?
Sprengel: Chillen, Urlaub machen.
Bauder: Es war schon eine lange Saison von letztem Jahr Ende September bis jetzt. Da gehört jetzt ein wenig Pause rein. In der Hallensaison stehen ein paar Meetings an, es stehen die Deutschen Meisterschaften an, es steht die Hallen-WM in Torun in Polen an. Die Quali ist noch nicht raus, wie die stattfindet. Das sind die nahen Ziele. Und Ende Mai nächsten Jahres das Meeting in Götzis…
Sprengel: Noch einmal angreifen, nachdem ich dieses Jahr wegen meiner Verletzung absagen musste.
Bauder: ...mitzunehmen. Alles Weitere schauen wir mal. Die Norm für die EM in Birmingham ist schon mal abgehakt. Das bedeutet, dass sie in der nächsten Saison nur noch die Norm bestätigen muss. Die 6000 Punkte abzuhaken sollten nicht Sandrinas Anspruch sein.
Du warst im Frühsommer erstmals verletzt. Was hat Dich das gelehrt?
Sprengel: Was lernt man daraus? Geduld haben.
Bauder: Also aus der Verletzung selbst kann man nichts lernen, sondern aus dem, was danach kommt. Man muss beispielsweise reflektieren, aus welchen Gründen eventuell die Verletzung passieren konnte.
Sprengel: Obwohl im ersten Moment für mich schon eine Welt zusammengebrochen ist, habe ich gelernt, dass die Saison trotzdem noch nicht vorbei sein muss. Deshalb Geduld haben, dann wird das wieder. Und viel Physio und Reha machen.
Bauder: Klar darf man kurzfristig enttäuscht sein, die Emotionen und Tränen rauslassen. Das gehört auch dazu. Dann sollte man aber auch die nächsten Ziele wieder im Blick haben. Wichtig ist die Balance zu finden, Ruhe zu bewahren und nicht zu schnell zu hektisch zu werden und die Wettkämpfe übers Knie zu brechen.
Am Horizont tauchen langsam die Olympischen Spiele 2028 in Los Angeles auf.
Sprengel: Ja, die warten auf mich.
Du bist ja schon mal vor dem Coliseum in Los Angeles gestanden. Ist der Wunsch, innen anzutreten, durch die WM noch einmal gewachsen?
Sprengel: Ich wollte schon immer bei Olympischen Spielen starten. Paris hat leider nicht geklappt. Aber LA wird nicht ohne mich stattfinden.
Bauder: Die fünf Ringe sind das Ziel für alle Beteiligten, die auf diesem Niveau arbeiten. Für die Athleten genauso wie für die Trainer. Wenn wir dieses Ziel nicht hätten, wären wir fehl am Platz. Das war schon das Ziel, als wir 2018 als kleiner Trainer und kleine Athletin gemeinsam angefangen haben zu arbeiten. Sandrina hatte von klein auf das Ziel zu Olympischen Spielen zu kommen. Ich genauso. Dass es jetzt im Duo so schnell geht bei einer WM dabei zu sein, hätte ich nicht erwartet.
Olympische Spiele sind noch einmal eine andere Dimension.
Bauder: Genau, auch was die Situation bei den Trainern anbelangt, denn die Zahl der zugelassenen Trainer und Betreuer ist geringer als bei einer WM. Wir werden mal schauen. Wenn die Athletin gut genug ist, dann können wir das vielleicht auch wieder im Duo machen.
Sprengel: Jetzt baut er schon Druck auf.
Bauder: Sie kann das auch ohne mich machen, denn sie wird so gut vorbereitet sein, dass sie weiß, was sie kann. Vielleicht bin ich aber so oder so irgendwo auf der Tribüne.